GIANNA RODARI

 

Aus: „Grammatik der Phantasie – Die Kunst Geschichten zu erfinden“. Reclam Leipzig 1999.

 

Ist die Konstruktion eines Rätsels eine Übung der Logik oder der Phantasie? Wahrscheinlich beides zugleich. Die Regel der Übung ergibt sich aus der Analyse eines sehr einfachen, volkstümlichen Rätsels, das folgendermaßen lautet oder jedenfalls früher, als Ziehbrunnen noch gebräuchlich waren, lautete:

„Lachend steigt er runter, und weinend kommt er rauf.“

(Der Eimer)

Der verschlüsselten Definition liegt ein Prozess der ,Verfremdung“ des Gegenstandes zugrunde, der aus seiner Bedeutung und aus seinem herkömmlichen Zusammenhang herausgelöst und einfach als ein Gegenstand beschrieben wird, der hinunter‑ und heraufsteigt.

In die Beschreibung dringen jedoch Assoziationen und Vergleiche ein, die nicht mehr die Totalität des Gegenstandes betreffen, sondern eines seiner Merkmale, das Klangliche. Der Eimer quietscht … Das quietschende Geräusch klingt beim Hinablassen des Eimers anders als beim Heraufziehen …

Der Schlüssel der neuen Definition liegt in der Metapher, die durch das Wort „weinen“ entsteht. Wenn der Eimer wieder hochkommt, schwankt er, und Wasser schwappt über … Der Eimer „weint“ … Weinend kommt er rauf.“ Und aus dieser Metapher entsteht als Gegensatz die erste: „Lachend steigt er runter“. Nun steht die doppelte Metapher bereit, um das Objekt darzustellen, es zu verbergen und vom banalen, alltäglichen Utensil zum geheimnisvollen Objekt zu erheben, das die Imagination herausfordert.

Die Analyse bietet uns also die Reihenfolge: Verfremdung ‑Assoziation ‑ Metapher. Das sind die drei notwendigen Schritte, welche die Formulierung des Rätsels bedingen. Die Gültigkeit der Regel läßt sich an jedem beliebigen Gegenstand prüfen. Zum Beispiel an einem Federhalter (heute eher an einem Kugelschreiber als an einem Füllfederhalter).

Erster Schritt: Verfremdung. Wir müssen den Federhalter so definieren, als sähen wir ihn zum erstenmal. Es ist ein Stäbchen, zumeist aus Plast, in Form eines Zylinders oder mehrflächigen Parallelepipedons und läuft in einer konischen Spitze aus, deren Eigenheit darin besteht, beim Reiben über eine helle Fläche ein sichtbares Zeichen zu hinterlassen. (Die Definition ist dürftig und ungenau. Wegen erschöpfender Definitionen wende man sich an die Romanciers der école du regard.)

Zweiter Schritt: Assoziation und Vergleich. Die helle Fläche“ der Definition bietet sich an, um andere Bedeutungen durch Bilder anzubahnen. Das weiße Blatt Papier kann zu einer beliebigen weißen Fläche werden, von einer Wand bis zu einem schneebedeckten Feld. Demgemäß kann, was auf einem weißen Blatt ein schwarzes Zeichen“ ist, auf einem weißen Feld“ zu einem .schwarzen Pfad“, einer schwarzen Spur“ werden.

Dritter Schritt: Die Schlussmetapher. jetzt sind wir zu einer metaphorischen Definition des Federhalters gerüstet: Es ist etwas, was eine schwarze Spur auf einem weißen Feld hinterlässt.“

Ein vierter Schritt ‑ nicht unbedingt erforderlich ‑ besteht darin, der geheimnisvollen Definition eine ansprechende Form zu verleihen. Sehr oft werden Rätsel in Versen formuliert. In unserem Falle ist es einfach:

Auf einer reinen weißen Flur zieht es eine schwarze Spur

Hervorzuheben ist die entscheidende Bedeutung des er­sten Schrittes, der scheinbar nur vorbereitend ist. In Wirklichkeit ist die Verfremdung ein wesentliches Mo­ment, weil sie die am wenigsten banalen Assoziationen ermöglicht und das Aufblitzen der überraschendsten Metapher bewirkt (die in ihrer Dunkelheit für den Ra­tenden um so anregender sind).

Warum haben Kinder solch ein Gefallen an Rätseln? Auf Anhieb würde ich sagen, weil sie die konzentrierte, nahezu sinnbildhafte Form ihrer Erfahrung bei der Eroberung der Realität darstellen. Für ein Kind ist die Welt voller geheimnisvoller Gegenstände, unverständlicher Geschehnisse und verschlüsselter Bilder. Ihre eigene Gegenwart in der Welt ist ein zu klärendes Geheimnis, ein zu lösendes Rätsel, das sie mit direkten oder indirekten Fragen umkreisen. Das Erkennen verläuft oft in Form einer Überraschung,

Daher rührt das Vergnügen, zweckfrei, spielerisch oder gleichsam zum Training das Erregende der Suche und der Überraschung zu verspüren.

Wenn ich nicht irre, hat auch das Versteckspiel etwas mit der Lust am Rätsel zu tun. Es hat jedoch einen anderen Hauptinhalt, nämlich den, versuchsweise noch einmal die Angst zu durchleben, verlassen zu werden, verloren zu sein. Oder sich zu verirren. ja, es ist der kleine Däumling, der das Sichverirren im Walde spielt. Wiedergefunden zu werden ist wie eine Rückkehr in die Weit, wie ein Rückgewinn der eigenen Rechte, wie eine Wiedergeburt. Zuerst gab es mich nicht: jetzt bin ich. Es gab mich nicht mehr: jetzt gibt es mich wieder.

In diesen Herausforderungen festigen sich das Gefühl der Sicherheit des Kindes, seine Fähigkeit, groß zu werden, seine Lust an der Existenz und der Erkenntnis.

Vieles ließe sich noch darüber sagen, aber es würde das Anliegen dieser Notizen sprengen.